Ob du wirklich bereit bist, kannst du nie wissen...

Ich dachte, dass ich in der Nacht nach meinem zweiten Ultra schlafen würde wie ein Baby. Wie könnte ich das nicht nach 67 Kilometern? Aber das Gegenteil ist der
Fall. Ich finde keinen Schlaf. Zu präsent sind all die Erinnerungen des vergangenen Tages. All diese Emotionen, die Bilder, die Menschen. Sie lassen mich keinen Schlaf finden. So richtig kann ich
es noch gar nicht glauben. Ich habe es geschafft. Zwischendurch habe ich nicht dran geglaubt. Es war mit Abstand das Härteste und Verrückteste, was ich bisher gemacht habe. Aber dafür auch das
Schönste und Intensivste. Wie ich den Tag erlebt habe, versuche ich euch in meinem heutigen Artikel zu beschreiben. Mit allen Höhen und Tiefen. Und davon gab es reichlich. Glaubt
mir.
"Jemand, der keinen Ultra läuft, wird dich nie wirklich verstehen."

Einige Monate ist es schon her, dass ich mich für die Etappe des Deutschlandlaufs angemeldet habe. Nachdem ich im Januar meinen ersten Ultra mit 50 Kilometern gelaufen bin, suchte ich nach einer Gelegenheit um den nächstgrößeren Schritt zu machen. Alles
für meinen Traum einmal die 100 Kilometer von Mainz bis nach Koblenz zu laufen. 67 Kilometer sind 17 Kilometer mehr als 50. Das klang in meinem Kopf irgendwie total machbar.
Zumindest als ich mich für die Etappe angemeldet habe. In den Tagen vor dem Lauf kamen mir da allerdings erhebliche Zweifel. Auch wenn ich das natürlich ungern zugebe. Vor meinen Freunden
und meiner Familie habe ich mir das nicht anmerken lassen. Aber der Gedanke "Scheiße, was hast du dir da nur eingebrockt?!", war wohl einer der häufigsten in den Tagen
vor dem Lauf. Der Deutschlandlauf ist ein Etappenlauf von Sylt bis zur Zugspitze in 19 Tagen. Das heißt, erfahrene Ultraläufer laufen jeden Tag zwischen 50 und 90 Kilometer. Das klang
einfach so wahnsinnig, dass ich Teil davon sein wollte. Wenn auch als Rookie. Die Teilnehmer, die den kompletten Deutschlandlauf absolvieren haben meinen größten Respekt. Für mich ist
das aktuell noch unvorstellbar, aber ich muss zugeben, dass an dem einen Tag, den ich im Kreise der Teilnehmer verbringen durfte, der Wunsch in mir aufgekeimt ist, solch eine Herausforderung auch
eines Tages zu meistern. Ich denke bis dahin bleibt mir noch etwas Zeit und es liegt definitiv ein langer Weg vor mir. Aber das macht mir keine Angst. Im Gegenteil. Ich freu mich
darauf.
Der morgen des Laufs: Anreise & Startnummer abholen

Mein Wecker klingelt. Es ist 4.30 Uhr in der Nacht. Aber ich bin dennoch froh, dass ich endlich aufstehen kann. Die letzten Stunden waren einfach
nur ein unruhiges Hin- und Herwälzen. Zu aufgeregt bin ich vor diesem Tag. Auch wenn ich versucht habe es nicht zu sein. Da sind einfach zu viele Unbekannte in der Gleichung. Was
wenn ich mich verlaufe? Wie werden die Verpflegungsstationen aussehen? Spielt mein Magen mit? Was erwartet mich jenseits von Kilometer 50? Ich versuche die vielen Fragezeichen für einen
Moment beiseite zu schieben um wenigstens noch halbwegs in Ruhe zu frühstücken. Der Tag wird lang werden. Ich esse eine kleine Schüssel Haferflocken mit etwas Agavendicksaft und
Mandelmilch. Im Anschluss packe ich meine 7 Sachen zusammen, kontrolliere gefühlte 15 Mal ob ich alles wichtige eingesteckt habe und gebe Tobi noch einen Kuss, bevor ich mich verabschiede.
Die Straßen sind leer. Die Stadt schläft noch. Auf dem Weg zum Bahnhof bin ich ungewöhnlich ruhig. Wahrscheinlich weil ich jetzt sowieso nur noch alles auf mich
zukommen lassen kann. Der Zug hat ein paar Minuten Verspätung, aber nicht soviel, dass ich in Panik geraten muss. Im Zug höre ich noch ein bisschen Musik um runter zu kommen. Ich schaue
aus dem Fenster auf der Fahrt nach Oberwesel und weiß, dass ich den Teil der Strecke bis nach Bingen gleich wieder zurück werde laufen müssen. Ein komisches Gefühl. In Oberwesel
angekommen, mache ich mich auf den Weg zur Jugendherberge, wo die anderen Teilnehmer zum Großteil übernachtet haben. Als ich oben ankomme, schwitze ich bereits ein bisschen. "Fängt ja toll
an...", denke ich mir. "Der Lauf hat noch nicht mal begonnen und ich bin schon fertig." Die anderen Teilnehmer sind zum Großteil noch beim Frühstück. Es herrscht Gewusel aber keine
Hektik. Ich frage mich durch, bei wem ich mich melden muss und finde nach kurzer Suche den Zeitnehmer. Dort muss ich mich in eine Liste eintragen. Derjenige, der für die Startnummern
zuständig ist hat wohl verschlafen. Daher bekommen wir diese erst an der ersten Verpflegungsstation. Alles ganz locker. Als ich mich in die Liste eintrage treffe ich auf Stephan, seinen
Sohn Alex und deren Kumpel Frank. Auch sie sind heute nur für eine Etappe dabei, aber allesamt erfahrene Ultraläufer. Die anderen Teilnehmer sammeln sich nach und nach vor der Herberge und bis
zum Start sind es nun nur noch wenige Minuten.
Start

Die "langsamen" Läufer starten um 7.00 Uhr. Die schnellen um 8.00 Uhr. Um Punkt 7.00 Uhr wird das Zeichen zum Start gegeben und das ganze mutet für
mich als Ultra-Neuling doch etwas skurril an. Bei den Großveranstaltungen, die ich kenne, schießen die Leute nach dem Startschuss immer sofort los. Da ist nix mehr mit unterhalten. Hier ist das
völlig anders. Es wird weniger los gelaufen, als vielmehr losgewandert. Erst nach und nach kommt das Feld ins rollen. Das erste Stück geht es bergab nach Oberwesel. Ich
unterhalte mich den ganzen Weg nach unten mit Alex und höre mir die Geschichten von ihm und seinem Vater an. Ich finde es toll, dass die beiden im Ultralaufen ihr Ding gefunden haben und muss an
meinen Papa denken für den solche extremen Distanzen aufgrund seiner Knie leider nichts mehr sind. Durch die Unterhaltung verfliegt auch nach und nach meine Nervosität. Ich fühle
mich wohl und irgendwie geborgen im Kreis der Ultraläufer.Ich bin schwer beeindruckt wie flott die meisten von ihnen unterwegs sind, obwohl sie schon etliche hundert Kilometer in den Beinen
haben. Als wir unten am Rhein ankommen und Richtung Bingen streben, realisiere ich so langsam, dass heute tatsächlich der Tag ist an dem ich 67 Kilometer laufen
möchte...
Der Weg nach Bingen, VP1 und VP2

In den letzten Tagen war das Wetter unberechenbar. Vor allem der Dauerregen hat den Läufern zugesetzt. Daher bin ich sehr froh, dass die Prognosen
für heute gut sind. Nach ein paar Kilometern kommt trotzdem die erste kleine Dusche in Form von leichtem Nieselregen. Alles ok. Die erste Verpflegungsstation kommt schneller als
gedacht. Ich hatte keine Vorstellung wie diese aussehen wird. Sie besteht aus einem Fahrrad mit Anhänger. Im Anhänger Wasser, Cola und noch ein paar andere Getränke. Wir - die heutigen
Etappenläufer - bekommen noch unsere Startnummer ausgehändigt. Ich bringe sie an meinem Shirt an, beiße kurz in einen meiner Rawbite
Riegel und dann geht es auch schon weiter. Es liegen schließlich noch einige Kilometer vor uns. Ein paar Kilometer später regnet es sich plötzlich so richtig ein.
Mit dicken Tropfen und ich merke wie auch in meinem Kopf dunkle Wolken aufziehen. Frank versucht mich mit Gesprächen abzulenken, aber ich werde nach und nach immer einsilbiger. Ich merke wie ich
unterzuckere. Normalerweise ist mein Körper darauf trainiert im Wettkampf nach allerspätestens 12 Kilometern ein erstes Gel zu bekommen. Die Gels kann ich aber heute nicht so anwenden wie sonst.
Anfang des Jahres bei den 50 Kilometern habe ich gemerkt, dass mein Magen bei so langen Läufen mit nur Gels irgendwann komplett dicht macht. Und das kann ich nicht riskieren.
Daher verwehre ich meinem Körper das Gel. Es scheint ihm nicht zu gefallen. Ich sehne plötzlich die VP2 herbei damit ich mich erstmal ausgiebig versorgen kann. Die letzten Kilometer bis Bingen
ziehen sich ganz fürchterlich und in meinem Kopf gehen die Zweifel los: "Wenn du jetzt schon kämpfst, wie willst du es dann bis Kilometer 67 schaffen?? Geschweige denn bis zur
Marathon-Distanz?? Du spinnst doch!" Die andere Stimme sagt "Keine Panik! Iss erstmal deinen Riegel. Gib dem Motor Benzin und dann geht es schon weiter. Irgendwie geht es immer
weiter." Ich höre auf die zweite Stimme und esse an VP2 erstmal in Ruhe meinen Riegel und spüle ihn mit Pfirsich-Eistee herunter. Ich bin so heilfroh, dass es dort diesen Eistee gibt! Denn
Cola oder Apfelsaftschorle könnte ich wegen der Kohlensäure nicht trinken. Und das Gemisch aus meinem Erdnussriegel und dem Pfirsich-Eistee ist genau die richtige Mischung aus süß und salzig, die
mein Körper und Kopf jetzt braucht. In Bingen will ich ich auch noch einem anderen menschlichen Bedürfnis nachkommen und lasse die Männer daher voraus laufen. Ich kann in ihren Augen sehen, dass
sie etwas besorgt sind und nicht ganz sicher ob es ihr Schäfchen heute bis ins Ziel schaffen wird. Das Schäfchen weiß es selber nicht, aber ich wünsche ihnen erstmal gute Beine für die
nächsten Kilometer. Nach einer kurzen Toilettenpause, ziehe ich weiter. Den Halbmarathon habe ich in der Tasche. Nur zählt der heute nicht viel...
Ober-Hilbersheim, Vendersheim und Wörrstadt, VP3 und VP4

Nun bin ich allein unterwegs. Ich sehe vor mir in einiger Entfernung ein oder zwei andere Läufer. Aber mit mir und meinen Gedanken bin ich allein. Keine Unterhaltung, die mich ablenkt. Ich frage mich wann und wo genau diese extreme Steigung kommt, die ich mir vorher im Streckenprofil angeschaut habe. Ich hoffe die ganze Zeit, dass ich mich nicht verlaufe, aber objektiv betrachtet ist das eigentlich kaum möglich. Die Organisatoren haben ihren Job richtig gut gemacht. Die pinken Pfeile auf dem Boden sind kaum zu übersehen. Und zwischendurch finden sich auch noch kleinere orangefarbene Aufkleber auf Laternen oder Straßenschildern. Nachdem ich mich an VP2 ausgiebig versorgt habe, läuft es wieder runder. Die Zweifel begleiten mich aber noch weitere Kilometer. Immer wieder stelle ich mir vor, dass ich meine Eltern anrufe und sie bitte mich abzuholen. Ich stelle mir die Situation bildlich vor. Wie sie mich aufsammeln. DNF - did not finish. Das spukt durch meinen Kopf. Aber immer wieder ist da auch die andere Stimme "Klar könntest du jetzt aufgeben. Das ist deine Sache. Niemand zwingt dich zum Laufen. Aber wolltest du nicht an deine Grenze gehen? Und hast du sie jetzt und hier, noch vor Kilometer 30 tatsächlich schon erreicht?" Nein, definitiv nicht. Also laufe ich weiter. Ein langes Stück, direkt an einer Landstraße entlang. Nicht besonders schön und schier unendlich. Da komme ich aber auch nach und nach wieder mit anderen Läufern ins Gespräch, die ich einhole oder die mich einholen. Hier läuft keiner einfach wortlos aneinander vorbei. Mit jedem werden ein paar Worte ausgetauscht. Mit manchen entwickeln sich richtige Gespräche. Je nachdem, wie lang das Tempo zueinander passt. Mit einer gehörlosen Teilnehmerin, die ich bereits heute morgen kurz getroffen habe, bin ich ein paar Kilometer unterwegs. Ich unterhalte mich mit Händen und Füßen, aber wir verstehen uns. Es ist schön gerade jetzt nicht allein zu sein. Dann plötzlich kommt er: der gefürchtete Anstieg. Er ist noch viel steiler als ich mir ausgemalt hatte. Zu dem Zeitpunkt unterhalte ich mich gerade mit zwei Teilnehmern mit Schweizer Dialekt, wenn ich das richtig gedeutet habe. Ich verstehe sie teilweise etwas schwer, aber sie haben auf jeden Fall gute Laune und bringen mich mehrfach zum Schmunzeln. Wir krackseln gemeinsam die Steigung hoch und sie attestieren mir, dass ich doch gut marschieren kann und mir deshalb keine Sorgen machen sollte. Sie sagen vieles, das mir in diesem Moment wirklich viel Kraft gibt. Und das obwohl wir uns gerade auf dem wohl anspruchsvollsten Part der Strecke befinden. Die Kulisse ist atemberaubend. Als ich endlich oben ankomme und in der Ferne die VP3 sehe, bin ich nicht wie erwartet fix und fertig durch den Aufstieg, sondern fühle mich eher besser als noch vor ein paar Kilometern. Verrückt. An der VP3 angekommen, treffe ich auf Stephan, Alex und Frank. Was die sich freuen mich zu sehen. Sie erzählen mir, dass sie bereits in Sorge waren, weil sie mehrere Teilnehmer nach mir gefragt hatten und nicht sicher waren ob ich noch im Rennen sei. Ich bin gerührt von diesem Gemeinschaftsgefühl. Während ich mich erstmal in Ruhe versorge, ziehen die drei bereits weiter und ich winke ihnen noch kurz nach. Auch hier spüle ich wieder meinen Erdnussriegel mit Pfirsich-Eistee runter. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal so dermaßen über Pfirsich-Eistee freuen würde. Die nächste VP ist nur 7 Kilometer entfernt. Das gibt mir sogar noch mehr Aufwind. Nach ein paar netten Gesprächen ziehe ich weiter. So langsam rückt die VP5 näher. Und da wollen schließlich meine Eltern warten. Die 7 Kilometer bis zur VP4 verfliegen unheimlich schnell - zumindest gefühlt. Dort hat einer der Helfer Geburtstag und wird stolze 73 Jahre alt. Wir alle gratulieren und trotz der großen Belastung unter der die Läufer stehen ist die Stimmung ausgelassen. Ich bin froh, dass mein Magen bisher so gut mitspielt. Ich schiele an jeder VP auf die vielen Leckereien, die es dort gibt und würde gerne nach Herzenslust zugreifen, aber das kann ich nicht riskieren. Ich beneide die Läufer, die keinen Reizmagen haben. Ich frage wie weit es nun bis zur nächsten VP ist. Denn wie mir Frank beigebracht hat, ist es besser während des Laufs nur in VPs zu denken bzw. von einer VP zur nächsten. 11 oder 12 Kilometer. Uff! Das ist nicht ganz so überschaubar wie sieben Kilometer. Aber gut. Auf ins Gefecht. Ich weiß, also nun, dass ich bis zur VP5 meine bisher längste Strecke von 50 Kilometern übertreffen muss, da die VP5 bei Kilometer 53 liegt. Ich trabe los. Auf ins Unbekannte. Meine Grenze verschieben...
Auf nach Westhofen, V5 und VP6

Es geht zum Großteil weiter entlang an einer Landstraße. Das zieht sich ganz schön. Es ist windig. Die meiste Zeit Gegenwind. Wie sollte es anders sein. Die Leute, die vorbeifahren gucken einen komisch an. Was die sich wohl denken? Ich schreibe meinen Eltern, dass ich etwas langsamer unterwegs bin als geplant. Sie antworten "Kein Problem.". Ich soll mir so viel Zeit lassen wie ich brauche. Ich werde so oft gefragt, woran man denn eigentlich so denkt, wenn man so lange unterwegs ist beim Laufen. Tja, an diesem Tag gehen mir viele Dinge durch den Kopf. Vergangenes, Zukünftiges, Aktuelles. Ich denke an meinen anstehenden Urlaub und gehe im Kopf To-Do-Listen durch. Ich male mir Szenarien aus, die in meinem Leben wahrscheinlich niemals passieren werden. Und immer wieder schaue ich mich um. Wo bin ich hier eigentlich? Und wie schön ist es hier eigentlich? Als es endlich mal wieder von der Landstraße weggeht wird es wirklich schön, aber auch sehr anspruchsvoll für die bereits geschundenen Füße und Beinchen. Der unebene Untergrund verlangt mir jetzt viel ab. Mitten auf einem Feldweg sehe ich plötzlich die 50 Kilometer Marke am Boden. Sie strahlt mir in pink entgegen. Das war sie meine Grenze. Jetzt ist sie passé. Einfach so. Ich lache innerlich und trabe weiter. Auf dem Feldweg ist es zum Teil ziemlich matschig. Nach diesem Abenteuer werde ich ohnehin ein Paar neue Schuhe brauchen. Die alten sind durch. Aber die Zeit wäre auch zu knapp gewesen um noch neue einzulaufen. Kilometer 52. Jetzt muss doch gleich die nächste VP kommen. Ja, da vorne ist die VP. Das muss sie sein. Ich ziehe das Tempo an. Mist! Das war sie doch nicht. Es ist einfach nur ein Wohnwagen. Etwas weiter die Straße runter sehe ich sie dann aber doch. Und auch meine Eltern mit Tilda. Sie sehen mich und winken. Ich lache und winke zurück. Wir umarmen uns und ich trinke meinen heiß geliebten Eistee zusammen mit meinem Riegel. Sie fragen wie es mir geht. Ich bin ehrlich. Nach 53 Kilometern kann man nur noch ehrlich sein. Mein linkes Bein schmerzt etwas. Ich vermute, dass es immer noch Nachwehen davon sind, dass ich Ende letzten Jahres angefahren wurde. Da hat die linke Seite das meiste abbekommen. Aber abgesehen davon geht es mir wirklich noch gut. Vor allem dem Kopf. Wir schwatzen noch ein bisschen und ich erkundige mich wie weit die nächste VP entfernt liegt. Sieben Kilometer. YES! Das ist wieder überschaubar. Ich marschiere weiter. Ein paar Minuten später ruft mich plötzlich jemand. Ich brauche einen Moment um aus meinem Tunnel raus zu finden. Dann sehe ich Tobi. Eigentlich wollte er erst im Ziel auf mich warten. Und jetzt steht er plötzlich mitten im Nirgendwo. Wir umarmen und kurz und tauschen einen Kuss. Weiter stehen bleiben möchte ich allerdings nicht. Ich will weiter. Tobi begleitet mich ein Stück und fährt dann weiter zur VP6. Es geht nochmal durch ein kleines Dorf. Da sitzen Leute draußen und trinken Bier und Radler. Sie fragen mich ob ich auch eins will. Wie gerne ich das würde. Es sieht sehr gemütlich aus. Aber ich habe mein Ziel mittlerweile immer klarer vor Augen. Es ist nur noch eine VP entfernt. Ich kämpfe mich weiter tapfer an der Landstraße entlang. Leicht hügelig geht es immer mal wieder rauf und runter. Ich schaue auf mein Handgelenk und möchte gucken wie weit es noch bis zur nächsten VP ist. Ich stutze. Meine Garmin hat den Geist aufgeben. FUCK! Das Display ist schwarz. Nix geht mehr. Dass der Akku schwach ist, hat sie mir bereits ein paar Kilometer zuvor signalisiert. Aber ich dachte sie hält noch durch. Na gut. Dann lauf ich eben blind. Bei Kilometer 59 kann man sich über solche Kleinigkeiten nicht mehr aufregen. Auf der nächsten Anhöhe sehe ich VP6 und aus der Ferne auch schon meine Eltern und Tobi. Ich kämpfe mich den kleinen Anstieg rauf und werde herzlich empfangen. Ich lege meinen Rucksack ab und lasse mich in einen der kleinen Campingstühle fallen. sie sehen gerade einfach zu gemütlich aus. Ich trinke Eistee und esse einen meiner letzten Riegel. Wieder kommen nette Gespräche auf mit den Helfern und den Läufern, die sich ebenfalls gerade versorgen. Die Helferin sagt, dass es nur noch 6,8 Kilometer bis ins Ziel sind. Wahnsinn! Wie schön das klingt. Und wie wenig. Ich merke, dass ich es noch gar nicht richtig glauben kann. Ich genieße also den letzten Schluck Eistee besonders bevor ich mich ein letztes Mal von Tobi und meinen Eltern verabschiede. Wir sehen uns im Ziel.
Die letzten 6,8 Kilometer

Als ich lostrabe merke ich, dass ich plötzlich völlig in mir ruhe. Es ist mir egal, dass nochmal ein kleiner Schauer herunterkommt und die Schmerzen im linken Bein nehme ich kaum noch wahr. Es ist irgendwie ein komisches Gefühl. Ich bin noch nicht im Ziel. Ich bin noch unterwegs. Aber es ist so nah. Die letzten Stunden gehen mir durch den Kopf. Die Menschen. Die Strecke. Die Erlebnisse. Ich. Ich frage mich, ob mir dieser Lauf das gebracht hat, was ich mir erhofft habe. Denn er ist für mich am Ende nur ein Schritt auf dem Weg zu einem größeren Ziel. Ich merke, dass meine Emotionen Achterbahn fahren. Auf den letzten Kilometern schreibe ich über Whatsapp mit meinen Kolleginnen und sie schicken mir ein Anfeuerungsvideo. Das gleiche kommt von meiner Schwester, die gerade im Urlaub ist. Als ich mir die Videos anschaue muss ich meine Tränchen zurück halten. Es ist so schön, dass sie an mich glauben. Aber noch viel schöner ist es, dass ich an mich glaube. Dass ich mir das tatsächlich zugetraut habe. Dass ich so verrückt war mich anzumelden. Auf den letzten Kilometern bin ich einfach komplett im Reinen mit mir und der Welt. Ich weiß, dass klingt nach irgend so einer komischen Esoterik-Kacke, aber so ist es eben. Auch wenn ich überhaupt kein gläubiger Mensch bin: Vor kurzem habe ich den Spruch gelesen: "Wenn du dein Leben verändern möchtest, lauf einen Marathon. Wenn du mit Gott sprechen willst, lauf einen Ultra." Und ja, irgendwie stimmt das. Ich spreche auf den letzten Kilometern nicht mit Gott. Aber ich bin auf einer Ebene meines Bewusstseins, die ich so vorher nicht kannte. Und das fühlt sich gut an. Um nicht komplett in die Wehmut abzudriften beschließe ich auf den letzten 3 Kilometern meine Musik auf dem Handy einzuschalten. Was eine gute Entscheidung! Ich marschiere zu den Beats meiner Lieblingslieder das letzte Stückchen Landstraße entlang und kann in der Ferne Westhofen erkennen. "This ist your life! You can do anything!" schallt es aus meinem Handy. Kurz darauf "We are the strong ones!" Alles Lieder, bei denen ich schon so oft imaginär über eine Ziellinie gelaufen bin. Ich laufe über die pinke Streckenmarkierung mit 65 Kilometern. Ich muss sie fotografieren um es selbst zu glauben. Kurze Zeit später steht auf dem Boden "Nur noch 1 Kilometer". Was in dem Moment in mir vorgeht kann ich einfach nicht beschreiben. Als würde ich mich in ein großes Brause-Konfetti-Bad setzen. Mit lauter Katzenbabys um mich herum. Ich winke dem Ortseingangsschild von Westhofen. Wahrscheinlich sehe ich völlig bescheuert aus, aber das ist mir so egal. Es geht links in den Ort rein und dann eine kleine Straße runter. Da kommt mir ein Helfer entgegen mit den Worten "Nur noch 200 Meter und dann links. Da ist das Ziel. Bravo!" Ich lache und zeige einen Daumen nach oben. Aus der kleinen Straße kommen mir mehrere Autos entgegen. In einem der Autos erkenne ich plötzlich Stephan und Alex. Ich bleibe stehen und hänge mich ins Fenster. Drücke die beiden kurz. Sie freuen sich riesig, dass ich es geschafft habe. Ein paar Meter weiter kommt mir Oliver Witzke - der Organisator des Laufs -auf dem Fahrrad entgegen. Er applaudiert mir und ich kann nur grinsen. An der nächsten Ecke biege ich nach links und sehe Tobi mit meinen Eltern. Sie feuern mich an und jubeln mir zu. Ich laufe ihnen entgegen. Tobi schießt eine Konfettikanone ab und ich freue mich über das kleine bunten Spektakel. Ich laufe noch ein paar Meter weiter und durchschreite schließlich das Ziel direkt vor der Turnhalle. Ich hab es geschafft. Ich bin angekommen.
"Wir sind nicht anders als andere. Der einzige Unterschied ist vielleicht, dass wir nicht so schnell aufgeben."
Im Ziel

Im Ziel sitzen die vielen anderen tapferen Läufer. Für die meisten von ihnen war die heutige Etappe nur ein kleines Stück auf dem Weg nach Sylt und
am nächsten Tag wird die Reise für sie weitergehen. Ich lasse mich erstmal ausgiebig drücken und beglückwünschen. Tobi hat mir zur Auswahl ein Radler und ein Weizen geholt. Ich
entscheide mich für das Radler und hole mir noch einen Becher Cola. Damit setze ich mich auf eine Bank. Schuhe aus. Fühlt sich das geil an! Ich fühle mich etwas schlapp. Aber lange nicht
so erschöpft wie ich gedacht hätte. Ich fühle mich gut. Ich trinke abwechselnd von der Cola und dem Radler. Ein paar Minuten später werde ich das bereuen. Mein Magen ist von der ganzen
Prozedur noch so mitgenommen, dass mir sogleich übel wird und ich anfange Magensäure zu spucken. Nicht sehr schön. Ich renne (ok nein, ich watschele) zur Toilette und muss mich zum Glück nicht
richtig übergeben. Der Magen kriegt sich wieder ein. Das Bier und die Cola überlasse ich dann aber doch lieber Tobi. Draußen ziehe ich ein frisches Shirt an, das Tobi mir aus dem
Auto geholt hat und klöne noch ein bisschen mit den anderen Läufern. Manche scherzen, dass ich doch morgen auch mitlaufen könnte. Ich winke dankend ab. Der Tag war toll, aber er war auch
anstrengend und all zusehr will ich mein Glück dann doch nicht herausfordern. Jetzt steht etwas Erholung auf dem Plan. Aber so richtig will ich gar nicht weg. Ich will die Atmosphäre
aufsaugen. So viel wie möglich davon. Ich bejubele die Läufer, die noch nach mir ins Ziel kommen. Alle sind für mich Helden und ich bin dankbar, dass sie mich so herzlich bei sich
aufgenommen haben. Kurz bevor wir den Heimweg antreten wechsele ich noch ein paar Worte mit Oliver. Ich bedanke mich für die mega Organisation. Man merkt, dass da wirklich Leute mit
Herzblut am Werk sind. Meine Medaille und Urkunde werden mir zugeschickt. Darauf kann ich mich also noch freuen. Ich verabschiede mich von der kleinen Laufgemeinschaft und von meinen Eltern. Auf
der Heimfahrt bin ich selig. Ich spreche mit Tobi über meine Erlebnisse und er hört sich alles geduldig an und sagt, dass er stolz auf mich ist. Das bin ich auch...
Und wie geht es jetzt weiter?
Aktuell regeneriere ich mich noch von meinem großen Tag. Aber es kribbelt schon wieder ganz schön in den Beinchen. Im August stehen nun erstmal
keine Wettkämpfe auf dem Plan, sondern ich fahre mit Tobi in den Urlaub. In den letzten beiden August-Wochen geht es nach Nordspanien. Dort werden wir ein bisschen surfen und sicher die tolle
Natur für ein paar Trailruns nutzen. Einfach so. Ohne Uhr. Ohne Druck. Erst im September geht es dann weiter mit dem fokussierten Laufen. Anfang September steht der Halbmarathon
in Koblenz an und der Firmenlauf in Mainz. Im Oktober steht mit dem Palma Halbmarathon dann nochmal ein richtiges Highlight an. Ansonsten mache ich mich bereits so langsam an die Planung für das
kommende Laufjahr. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mich in die Atmosphäre bei den Ultraläufen verliebt habe. Dort geht es nicht um jede Sekunde. Alles ist viel entspannter
und familiärer, weil die Veranstaltungen meist viel überschaubarer sind. Nach solchen Läufen werde ich fürs nächste Jahr Ausschau halten. Mein nächster Ultralauf soll idealerweise um die 80
Kilometer lang sein. Wenn also jemand von euch gute Tipps hat, immer her damit. Denn auch wenn ich mich nach den 67 Kilometern echt aufs Ziel gefreut habe. Es wäre auch weiter gegangen.
Irgendwie geht es immer weiter. Und ich freue mich darauf diesen Weg weiter zu gehen. Ganz in meinem eigenen Tempo.
Liebste Laufgrüße
Eure Julia
Kommentar schreiben
Robert (Dienstag, 01 August 2017 12:09)
Wow, das klingt nach einem wirklich bewegenden Lauf. Glückwunsch zum Finish!
Einen Ultra in der Distanz wäre z.B. der FiNaMa (Mitte/ende Juno) oder der Müritz-See-Lauf (Mitte August) :-) Oder einfach mal auf der Webseite vom DUV nachschauen: http://www.ultra-marathon.org/
Wartberg Läufer (Dienstag, 01 August 2017 13:10)
Ja, Du hast es geschafft Julia.
���Glückwunsch
Du bringst nicht nur die Ausdauer und Willensstärke für lange Distanzen mit, sondern auch tolle emotional lange Laufberichte für die Szene.
Ich glaube es dauert nicht mehr lange, dann läufst Du bis Koblenz, sag einfach Bescheid und Du bekommst Unterstützung. Als Vorbereitung kann ich die 80 km Fidelitas in Karlsruhe empfehlen.
Viele Grüße Frank