laufen, wo man sich zuhause fühlt.

Wir haben auf ihr das Laufen gelernt. Sind an ihr gewachsen und manchmal auch an ihr verzweifelt. Auf ihr zu laufen fühlt sich an wie "Nach Hause kommen". Wir haben auf sie geschimpft und wir haben sie vermisst. Egal wo wir noch laufen werden, sie wird immer etwas Besonderes für uns bleiben. Die Rede ist von der guten alten Hausstrecke. Jeder hat doch so eine Strecke, die sich im Laufe der Jahre etabliert hat. Eine Strecke, die man immer wieder läuft, wenn keine Zeit ist, eine neue Strecke auszutüfteln oder wenn man nur mal eben so noch eine Runde nach Feierabend drehen mag. Heute möchte ich euch von meiner Hausstrecke erzählen und mich bei ihr bedanken...
Ich kenne dich...
...glaube ich zumindest. Denn auch wenn wir uns schon so lange kennen, schaffst du es immer noch mich zu überraschen. Ich muss nicht nachdenken wenn ich loslaufe. Der Autopilot leitet mich aus meiner Haustür hinaus, vorbei an der St. Quintin Kirche hinunter zum Rheinufer. Ich bin schon immer gerne am Wasser gelaufen. Eine Stadt ohne Fluss kann ich mir kaum vorstellen. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb auch gleich in dich verliebt. Und du hast mir geholfen über den Verlust meiner alten Hausstrecke in Koblenz hinwegzukommen. In vielen Punkten seid ihr euch so ähnlich. Und dann doch wieder so verschieden. Der Rhein ist mein Anker. An ihm kann ich mich orientieren. Ich schaue aufs Wasser und lasse meinen Blick schweifen. Ich laufe vorbei am scheußlich schönen Rathaus. Ein großer Kasten aus Stahl. Ich schaue nach vorn und steuere mit ruhigen gleichmäßigen Schritten auf die Rheingalerie zu. Ich kann abschalten. Meine Füße kennen den Weg. Das Fort Malakoff ragt am Ende des Stresemann-Ufers hervor und zeugt von längst vergangenen Zeiten. Im Sommer sind die Stufen hier meist dicht besiedelt mit sonnenhungrigen Menschen. Aber jetzt im Winter sind sie menschenleer. Auch am Winterhafen ist alles ganz still. Ganz anders als im Sommer, wenn sich Grill an Grill und Picknickdecke an Picknickdecke reiht. Auch die Anzahl der Läufer hat sich verringert. Im Sommer komme ich mit dem Grüßen manchmal nicht mehr nach. Ich könnte die Hand gleich oben lassen. Jetzt gibt es nur wenige Läufer zu grüßen. Aber über die freue ich mich. Und ich versuche mir abzuschauen, wie sie sich gegen die Kälte schützen. Ich laufe nun schon 2 Kilometer auf dir. Ich genieße deinen ebenen Verlauf solange ich kann. Denn am Ende des Winterhafens forderst du mich heraus.
Ich hasse dich...
...manchmal. Besonders hasse ich deinen Anstieg auf die Eisenbahnbrücke. Er fordert mich jedesmal aufs neue. Mein Herz schlägt schneller und ich will einfach nur oben ankommen. Dort atme ich schneller als zuvor. Doch der Ausblick entschädigt mich dafür. Ich laufe über den Rhein hinweg auf die andere Seite. Die "Ebsch Seit". Auf der Brücke sehe ich die vielen Schlösser der vielen Paare, die sie dort einst platziert haben. Ich frage mich ob all die Paare noch zusammen sind. Ich schaue nach links über den Rhein bis nach vorne zur Theodor-Heuss-Brücke. Bis dahin werde ich laufen müssen um wieder zurück auf meine Seite zu kommen. An Tagen wo es nicht gut läuft, macht mir das manchmal Angst. Aber heute ist keiner dieser Tage. Ich genieße das leichte Gefälle beim Verlassen der Brücke und laufe vorbei an Fussballfeldern und einer Miniatur-Eisenbahn. Die zweite Brücke meiner Drei-Brücken-Tour steht nun unmittelbar bevor. Jetzt geht es über den Main und rüber nach Kostheim. Der Ausblick von dieser Brücke ist nicht so schön wie auf den anderen beiden. Wenn ich nach links schaue sehe ich unten ein Freudenhaus oder ein Haus das mal ein Freudenhaus war. Das weiß ich nicht genau. Daneben ist ein Hund, der ständig die Leute auf der Brücke anbellt. Vielleicht würde er gerne mitlaufen. Wer weiß.
Ich entdecke dich...
...nicht jedesmal neu. Aber ich finde immer noch Dinge, die mir nach so viele Runden auf dir noch nicht aufgefallen sind. Wie zum Beispiel der Aufkleber auf dem kleinen weißen Poller "Hard Work Soft Drinks". Ich habe die Maaraue bereits hinter mich gebracht. Ich mag diesen Abschnitt. Nicht nur weil er leicht abschüssig ist, sondern auch weil man manchmal kleine grüne Papageien in den Bäumen sitzen sieht. Sie piepsen munter vor sich hin im Sommer. Jetzt wo es kalt ist, sehe ich sie nicht mehr so oft. Vielleicht sind sie in den Süden geflogen, wo es wärmer ist. Richtig so! Nach der Maaraue läuft man wieder direkt auf den Rhein zu und sieht Mainz und seine Skyline. Wie schön die Stadt von hier aus aussieht. Ich sehe die Spitze des Doms und die Christuskirche. Immer wenn ich sie sehe muss ich an Paris denken und das Sacre Coeur. Ich sehe wo ich hergekommen bin und wohin ich noch laufen werde. Ich laufe weiter am Rhein entlang. Zurück Richtung Theodor-Heuss-Brücke. Vorbei an einer großen Wiese, die jetzt im Winter menschenleer ist. Die Bäume haben all ihre Blätter verloren. Alles wirkt so friedlich. Ich laufe über eine kleine Brücke hinüber zum Reduit. Gerade ist Adventsmarkt und viele Menschen tummeln sich hier. Auf dem Boden vor dem Reduit ist immer noch die blaue Ziellinie des 2/3 Marathons zu sehen. Seit zwei Jahren ist sie da nun schon. Wind und Wetter konnten sie nicht wegwaschen. Dieses Jahr hätte ich sie gebrauchen können. Aber da gab es keinen 2/3 Marathon. Also hieß es ganz oder gar nicht.
Ich liebe dich...
...wenn ich die letzten Stufen rauf zur Theodor-Heuss-Brücke erklimme. Sie bringen mein Herz nochmal zum Rasen. Aber wenn ich oben bin, wird es ganz leicht. Der Ausblick ist noch viel schöner als der von der Eisenbahnbrücke. Ich lasse meinen Blick wandern. Nach links in Richtung Winterhafen. Diese ganze Schleife bin ich gelaufen. Nach rechts Richtung Zollhafen. Auch dort lang bin ich schon oft gelaufen. Aber die linke Schleife scheint mir näher am Herzen zu liegen. Auf der ersten Hälfte der Brücke geht es leicht bergauf. Am schönsten ist es wenn man oben in der Mitte angekommen ist und sieht, dass man ab jetzt nur noch rollen lassen kann. Ich erinnere mich noch gut an meine Momente auf der Brücke während meiner Teilnahmen am Gutenberg-Marathon. In diesem Jahr machte mir die Hitze sehr zu schaffen und es graute mir vor dem Abschnitt in Mainz-Kastel. Aber als ich schließlich zurück kam und oben auf der Brücke war, riss ich die Arme in die Höhe, als wäre ich bereits im Ziel. In dem Moment wusste ich, dass ich es schaffen werde. Bei der Erinnerung daran, während ich nun wieder da oben auf der Brücke laufe, stellen sich die kleinen Härchen in meinem Nacken auf. Das fühlt sich großartig an. Ich genieße die letzte Etappe meiner Hausstrecke und habe einen Riesenspaß daran bergab nochmal richtig Gas zu geben. Meine Schritte werden lang. Es fühlt sich ein bisschen an wie fliegen und in meinem Kopf sehe ich mich athletisch dahin schweben. Ob das Bild in meinem Kopf und die Realität zusammenpassen ist mir in dem Moment egal. Meine Schritte, mein Herz, mein Atem, mein Kopf. Alles ist in diesem Moment im Einklang. Dieser Abschnitt könnte ewig dauern. Leider dauert er meist nur 2 bis 3 Minuten. Wenn ich unten an der Ampel auf der Rheinstraße angekommen bin, bin ich schon fast wieder zu Hause. Nur noch ein paar Meter. Egal was vor dieser Laufrunde war. Jetzt ist es nicht mehr so wichtig. Oder vielleicht ist es einfach nur leichter. Mein Kopf ist frei. Und ich bin bereit für alles was da kommt.
Ich laufe dich...
...nicht immer. Aber immer wieder. Es gibt noch viele Strecken, die ich laufen will und laufen werde. Ich will Neues entdecken und mir die Welt
erlaufen. Aber ich werde immer zu dir zurück kehren. Auf dir fühle ich mich zu Hause. Dir ist es egal wie ich aussehe, was ich anhabe, wie gut oder wie schlecht ich laufe. Auf
dir muss ich mich nicht messen. Ich kann einfach laufen. So schnell oder so langsam wie ich will. Alleine oder gemeinsam. Du gehörst mir nicht. Du bist das zu Hause von vielen Läufern.
Und das ist ok. Denn wenn ich auf dir laufe, an kalten Tagen wie jetzt im Winter, habe ich manchmal doch das Gefühl es gibt nur dich und mich. Zumindest für eine Runde...

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Jochen (Freitag, 09 Dezember 2016 13:24)
Schöne Bilder in diesem Post. Schön die Gedanken beschrieben, die auch mir auf dieser Runde durch den Kopf gehen - die Brücken, die verschiedenen Ortsteile, Sehenswürdigkeiten und die Marathonstreckenabschnitte. Und obwohl die Runde "das Zuhause von vielen Läufern" ist, ist sie im Winter so schön ruhig und einsam.